Neue Straßenbahnen für Jena: Millimeter für Millimeter zur Barrierefreiheit

Thomas Friedrich hat seinen Rollstuhl fest im Griff. Mit viel Geschick manövriert sich der 38-Jährige durch die langen Gänge auf dem Betriebshof des Jenaer Nahverkehrs. Sein Ziel ist die Straßenbahn-Werkstatt. An einem Mittwochnachmittag im Oktober 2020 hat das Verkehrsunternehmen Thomas Friedrich und weitere Fahrgäste eingeladen, die auf einen Rollstuhl angewiesen sind oder einen E-Scooter fahren. Ihre Aufgabe ist es, an einem auf dem Werkstattboden aufgebauten Holzmodell zu testen, wie viel Platz in den neuen Straßenbahnen für ihre Rollstühle vorhanden ist und wie Ein- oder Ausstieg gelingen.

„Ich finde es gut, dass der Nahverkehr uns über den Beirat für Menschen mit Behinderungen zu diesem Termin eingeladen hat“, sagte Friedrich. So können wir gemeinsam vor dem Bau der Straßenbahnen planen und müssen nicht hinterher korrigieren.“

Straßenbahn einmal anders: Die Werkstattmitarbeiter entwarfen das Holzmodell für das Mehrzweckabteil in den neuen Straßenbahnen. Die Maße entsprechen 1 : 1 dem Original. © Jenaer Nahverkehr

Gemeint sind die neuen Straßenbahnen, die der Nahverkehr im Sommer 2020 für Jena in Auftrag gegeben hat. Den Zuschlag erhielt die Firma Stadler. Gebaut werden die Bahnen im spanischen Valencia, die spätere Wartung übernimmt Stadler Berlin-Pankow. Insgesamt sollen in dem sogenannten Projekt „Der 800er TRAMLINK Jena“ 33 Straßenbahnen des Typs GT6M durch Straßenbahnen eines individuell auf Jenaer Bedürfnisse abgestimmten Straßenbahntyps ersetzt werden.

Stadler stellt die neuen Straßenbahnen her

Die Auftragsvergabe an Stadler umfasst die Lieferung von 24 Straßenbahnen mit einer Option auf bis zu 19 weitere Fahrzeuge des Typs TRAMLINK. Ende 2022 werden die ersten TRAMLINKs in Jena erwartet. Parallel zur Fahrzeugbeschaffung wird die Infrastruktur (Streckennetz und Betriebshof) so erweitert, dass die größeren Bahnen zukünftig freie Bahn haben sowie unkompliziert gereinigt und gewartet werden können.

Mehrzweckabteile im „Größencheck“

Doch bis die neuen Bahnen fahren, gilt es noch einiges zu tun. Der Termin zum „Größencheck“ der Multifunktionsbereiche für Rollstühle und E-Scooter ist ein winziger und doch wichtiger Baustein dabei. Vertriebschef und Workshop-Leiter Markus Würtz erklärt zu Beginn des Termins den Aufbau der zukünftigen Bahnen. 16 Fahrzeuge sind siebenteilig ausgeführt bei einer Fahrzeuglänge von rund 42 Metern. In den drei Multifunktionsbereichen befinden sich insgesamt vier Plätze für Rollstuhlfahrer. Ebenso erhalten Kinderwägen und Fahrräder Stellfläche. Acht Fahrzeuge sind als fünfteilige Straßenbahnen ausgelegt bei einer Fahrzeuglänge von ca. 32 Metern. Darin befinden sich ebenfalls zwei Multifunktionsbereiche mit insgesamt vier Rollstuhlplätzen.

„Eines dieser Multifunktionsbereiche wurde von unseren Mitarbeitern in der Werkstatt als Holzmodell nachgebaut. An diesem können wir heute genau prüfen, wie unsere Rollstuhl- und E-Scooterfahrer mit den Maßen zurechtkommen“, sagt Markus Würtz.

Und los geht’s! Thomas Friedrich ist der erste, der mit seinem Rollstuhl den Eingang in das Straßenbahn-Holzmodell passiert und in einer Geschwindigkeit, die kaum Zeit zum Staunen lässt, in dem Multifunktionsbereich parkt. Dass er mehrmals die Woche Rollstuhl-Basketball bei den Jenaer Caputs spielt – diese Sportlichkeit kommt ihm da sicher zugute. Andere Mitstreiter an diesem Nachmittag brauchen etwas länger, um sicher und an der richtigen Stelle im Straßenbahn-Modell zu stehen. Aber alle bekommen es schließlich hin.

Gut eingeparkt: Der Jenaer Thomas Friedrich steht mit seinem Rollstuhl symbolisch in der „Parklücke“. © Jenaer Nahverkehr

Jeder Millimeter ist wichtig

Ein besonderes Detail in den Abteilen, bei dem es um jeden Millimeter geht, ist der Windfang an den Eingängen der Bahn. Die später aus Glas gefertigte Scheibe dient als Windschutz und Befestigung für die Haltestange. Mehrmals hält Würtz an diesem Nachmittag das Lineal an den nachgebauten Windfang aus Holz und lässt das Modell von seinen ursprünglich 62 Zentimetern, die es in den Fahrgastraum hineinragt, über 52 Zentimeter auf letztlich 47 Zentimeter kürzen. Denn wie sich beim „Rollstuhltest“ zeigte, jeder Millimeter entscheidet darüber, ob sowohl der Rollstuhl oder E-Scooter als auch die übrigen Fahrgäste ausreichen Platz haben. Ebenso muss an Fluchtwege im Havariefall gedacht werden. Diese millimetergenauen Erkenntnisse entscheiden nun mit über die finale Planung der Bahnen.

Anforderungen im Detail prüfen

Bereits im Zuge der Ausschreibung wurde ein umfangreiches Lastenheft erarbeitet mit allen Anforderungen an die zukünftigen Fahrzeuge. Darin war bereits festgelegt, dass die Bahnen insgesamt 15 Zentimeter breiter als die GT6M sein sollen, damit mehr Raum bleibt für Kinderwagen, Fahrräder oder eben auch Rollstühle. Zum jetzigen Projektstand folgen einzelne Systembeschreibungen. Zum Beispiel wird das Design für innen und außen genau auf den Fahrzeugtyp abgestimmt und festgelegt. Und eben auch die Anforderungen für Barrierefreiheit müssen geprüft und ggf. angepasst werden. Dafür finden umfangreiche Workshops beim Nahverkehr statt. Regelmäßig trifft sich dann die sogenannte Projekt-Steuerungsgruppe mit Stadler, um die Anforderungen abzustimmen und in die Konzeption einfließen zu lassen. Bei Stadler selbst ist bereits der Beschaffungsprozess gestartet, um Teile mit langen Lieferzeiten rechtzeitig zum Konstruktionsstart im Jahr 2021 vorrätig zu haben.

Thomas Friedrich rollt am späten Nachmittag zufrieden aus der Werkstatthalle des Jenaer Nahverkehrs hinaus. Er konnte den Platz in den neuen Straßenbahnen testen. Er hat erfahren, dass für die Barrierefreiheit weitere Anforderungen umgesetzt werden. Zum Beispiel wird keine Rampe mehr notwendig sein, sondern Bahnsteig und Bahn befinden sich nahezu auf einer Höhe zum bequemen Ein- und Ausfahren. Und er konnte sehen, dass um eine Straßenbahn zu konstruieren, jeder Millimeter von Bedeutung ist.

Gut zu wissen:

Warum heißt das Projekt „800er TRAMLINK Jena“?

  • Der ursprüngliche „interne“ Projekttitel „Der 800er“ wurde mit der Auftragsvergabe an Stadler erweitert zu „Der 800er TRAMLINK Jena“.
  • Die Zahl 800 steht für die neue Straßenbahngeneration mit den Fahrzeugnummern aus der 800er-Reihe (GT6M haben 600er-Nummern und die Traminos 700er).
  • TRAMLINK ist der bei Stadler beauftrage Fahrzeugtyp. Dieser wird individuell auf die Anforderungen der Stadt Jena angepasst – ein Unikat!

Finanzierung/Förderung

Die Finanzierung der Straßenbahnen ist in sogenannte Lose unterteilt. 12 Straßenbahnen werden über das Los 1 mit 23,4 Millionen Euro EFRE-Mitteln der aktuellen Förderperiode 2014-2020 und Landesmitteln gefördert. Weitere 12 Straßenbahnen werden über Los 2 mit 21 Millionen Euro komplett aus Landesmitteln finanziert. Die zuständigen Förderbehörden sind die Thüringer Aufbaubank (TAB) und das Thüringer Landesamt für Bau und Verkehr (TLBV). Die Förderung von 9 weiteren Straßenbahnfahrzeugen in einem 3. Los in der neuen EFRE Förderperiode 2021-2027 wird geprüft. Insgesamt wird das Projekt „Der 800er TRAMLINK Jena“ mit einem Volumen von 150 Millionen Euro beziffert.

Aktuelle Informationen zu den neuen Straßenbahnen lesen Sie hier: https://www.nahverkehr-jena.de/unternehmen/aktuelles/neue-bahnen-fuer-jena.html

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